Liebe Freunde!
Hier mein Brief mit Gedanken, Tipps und Liebhabereien, Sinn und Unsinn im Oktober
Geschichte des Monats
Vor über 30 Jahren bin ich nach Österreich gekommen, um hier zu bleiben, zu leben, zu lieben, zu arbeiten, zu singen, zu denken und zu schreiben. Ich kam aus einem seltsamen Land, das sich Südtirol nennt und Italien zugeschrieben wird, und wahrscheinlich ist es die Erfahrung des Grenzländers, die mich schnell erkennen ließ, dass Nationalstaaten künstliche Konstruktionen sind, die zur Charakterisierung eines Menschen niemals taugen und sein Wesen nur sehr unzureichend definieren können. Sehr wohl aber taugen sie dazu, uns Menschen voneinander zu trennen und uns vorzugaukeln, wir seinen nicht alle aus dem selben Stoff gemacht.
Für mich hat die nationalstaatliche Zugehörigkeit dazu noch den absurden Effekt, dass ich als verbriefter Italiener auch nach vielen Jahren österreichischen Lebens, bei österreichischen Nationalratswahlen nur Zaungast sein darf.
Politische Gedanken des Monats
So habe ich am Sonntag eben über meinen nationalstaatlichen Zaun gelugt und dir verblüfft bei deiner Wahl zugeschaut, Österreich:
Das Erste, was mir dabei auffällt, ist, dass es dir zu 22% völlig wurscht ist, wer dich regiert, zu 78% hingegen nicht. Damit bist du 14% politisch interessierter als "meine" italienischen Landsleute, von denen es etwa 36% völlig wurscht war, wie ihre letzten Parlamentswahlen ausgehen würden.
Das Zweite, was mir ins Auge sticht, ist dass es dir zu 28,8% völlig wurscht ist, dass es einen Ibiza-Skandal gegeben hat und dass du den Kickls und Co. dein Vertrauen auch dann zu schenken bereit bist, wenn sie dir offen sagen, dass sie dich samt deiner Großmutter an den Bestbietenden verkaufen würden.
Das Dritte ist, dass es dir zu 11,2 % entweder nicht wurscht war, dass du einen Kasperl-Krokodil-Kanzler Kurz ertragen musstest, oder der ÖVP nicht verziehen hast, dass sie ihn einfach durch seinen Pezi-Freund Karl Nehammer ersetzt hat, oder dass du vielleicht sehr wehleidig (-11,2% und - 5,6%) auf Pandemiemaßnamen reagierst, oder es vielleicht auch nur schwer ertragen kannst, wenn Leute nicht bereit sind zuzugeben, was sie falsch gemacht haben.
Das Vierte, was mir ins Auge fällt, wenn ich über den Zaun blicke, ist dass du zu 31,8% (21,1 + 8,3 + 2,4) denkst, eine Politik mit sozialem Schwerpunkt könnte dein Leben verbessern, aber zu 64,3 % (28,8 + 26,3 + 9,2) weiter darauf vertraust, dass kapitalistisch orientierte Politik dir eine lebenswertere Zukunft bescheren wird.
Das Fünfte, was ich sehe, ist das 2% von dir einfach gerne Spaß haben und mit Dumpfbacken Bier trinken möchten.
Das Sechste, dass du allgemein nicht besonders viel Lust auf Neues hast, denn die Partei, die sich "Wandel" nennt, hat es nicht mal auf die Grafik oben geschafft. (Hast du eigentlich je ihr Programm gelesen? Solltest du hier.) Aber vielleicht liegt das auch daran, dass "Keine" kein sehr ansprechender Name ist, außer für die 22% von dir, denen es völlig wurscht ist, wer sie regiert.
Du könntest nun dem Vorwurf des Altbackenseins widersprechen, indem du entgegnest, dass du dich immerhin zu 9,2% für die Neos entschieden hast, aber du weißt so gut wie ich, dass dieser Parteiname viel neuer klingt als das Programm dahinter.
Das Siebte, das ins Auge sticht, ist, dass du heute, obwohl deine Gletscher in einem atemberaubenden Tempo schmelzen, obwohl die Weltgemeinschaft sich der Dringlichkeit des Problems immer schmerzhafter bewußt wird und nachdem in den letzten Wochen gerade wieder ein nicht unbeträchtlicher Teil deiner Habe abgesoffen ist, du den Klimaschutz deiner Stimme nicht würdig erachtest (-5,6%) im Gegenteil, deine Stimme lieber zu denen wendest, die jedes Windrad abreißen möchten (+12,6%).
Diese Tatsache hätte ich gerne mit einer Broschüre belegt, die die Freiheitliche Jugend Österreich als nützlich für unsere Kinder erachtet, aber ich habe sie online nicht gefunden. Hier drei Ausschnitte:
Online schreckte mich nur die Startseite der Jugendorganisation, die du hier finden kannst.
Das Achte, was mir auffällt, ist also dass du nicht nur sehr aufgeschlossen für Klimaleugner und ihre rückwärtsgewandten Konzepte wie "Frauen an den Herd", sondern auch sehr tolerant gegenüber rechtsradikalen und faschistischen Annäherungen bist und dass du, wie Winfried Kretschmann sagen würde, anscheinend zu einem großen Prozentsatz sehr in deiner Biologie verhaftet bist, und dir deine Abgrenzung vor Fremden bedeutend wichtiger ist, als die Weiterentwicklung deiner humanistischen Werte.
Es steht zu befürchten, dass der Anteil derer von dir, die sich das genau Umgekehrte wünschen, in die Falle tappen, nicht dialogisch sondern kämpferisch zu denken (einiges deutet hier schon darauf hin) und damit genau in die Falle derer tappen, die den Kampf lieben und das Recht des Stärkeren propagieren. Ich glaube aber, dass du wie jeder andere auf der Welt, der zukunftsmäßig auf einen grünen Zweig kommen will, um das Reden nicht herumkommen wirst, dass du dir die Mühe, jedes einzelne falsche Argument zu zerpflücken, jede allzu einfache Wahrheit offenzulegen nicht ersparen wirst können. Wenn man nämlich anstatt zu streiten nur bekräftigen möchte, dass man selber gut und andere böse sind, kann man gleich nach Amerika ziehen, oder in ein anderes gespaltenes Land. Wenn man aber auch nur ein bißchen daran glaubt, dass wir alle aus dem selben Stoff gemacht sind, werden wir nicht aufhören können, uns gegenseitig zuzuhören und uns so heftig der Streit auch sein mag, uns dabei möglichst viel Respekt zu schenken.
Ich wünsch dir wirklich viel Glück, Ausdauer und Geduld dabei Österreich!
Hier kommt das
Lied des Monats
für alle Linken, die es wie ich aushalten, sich ein wenig mit Humor zu betrachten.
Zitat des Monats
"Es fällt immer auf, wenn jemand über Dinge redet, die er versteht."
Helmut Käutner
(deutscher Regisseur, Schauspieler und Kabarettist)
Podcast des Monats
Ich weiß, du reagierst meist sehr empfindlich, wenn du aufgefordert wirst, vom großen Nachbarn zu lernen, Österreich, aber genauso wenig, wie du deinem deutschen Nachbarn ernsthaft den Humor absprechen kannst (was du trotz Loriot, Gerhard Polt, Anke Engelke, Harald Schmidt, Luise Kinseher und tausend anderen gerne tust), kannst du manch seiner Politikerpersönlichkeiten nicht die Redlichkeit, die Weitsicht, den brillanten Verstand und die Herzenswärme absprechen. Höre hier den großen Winfried Kretschmann!
Jetzt reicht's aber wieder mit dieser dummen Anrede, denn ich weiß ja, dass es dich, Österreich, wie alle anderen Nationalitäten nur als politisches Konstrukt gibt und ich viel lieber mit Menschen, die mir viel bedeuten, rede, als mit Staaten, die mir als Antipatrioten nur wenig bedeuten.
Außerdem schreibe ich diesen Clementi-Brief auch für viele Nicht-Österreicher, für viele SüdtirolerInnen, für viele Deutsche und manchmal erhalte ich darauf sogar eine Reaktion aus den Niederlanden oder aus Tel Aviv.
Wie auch immer: Wenn Ihr nicht allzu weit weg wohnt, kommt zur...
Vorstellung des Monats
Wir wollen am Freitag den 4. Oktober wieder mit viel Humor aufdecken, was in der westlichen Zivilisation falsch gelaufen ist, und wie es uns passieren konnte, das wir bei Sokrates gestartet sind und bei Putin gelandet.
Die letzte Vorstellung mussten wir aus gesundheitlichen Gründen absagen. Wir hoffen sehr, dass es diesmal anders kommt.
Klickt für Infos und Karten hier!
Schauspielerin des Monats
Maggie Smith war eine der ganz großen. Sie hatte schon einen Oscar als beste Hauptdarstellerin gewonnen, noch bevor sie durch Harry Potter und Downton Abbey weltweit berühmt wurde. Letzte Woche ist sie im Alter von 89 Jahren gestorben.
Ich werde sie vermissen!
Bemühe mich aber trotzdem fröhlich zu leben und ich hoffe, das gelingt Euch auch!
Alles Liebe
Euer
Georg